Anton (Name von der Redaktion geändert), 15, aus Kiew ist seit September 2023 Schüler am Gymnasium LSH Marquartstein. Er berichtet, welchen tiefen Einschnitt der Krieg für sein Leben bedeutete:
Am 24. Februar 2022 weckte mich meine Großmutter um vier Uhr morgens. In diesem Augenblick verstand ich nicht, worum es ging, aber als ich die Explosionen hörte, wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Doch damals dachte ich noch nicht, dass es noch schlimmer werden würde. Von diesem Moment an hat sich mein Leben verändert.
Wir mussten Kiew verlassen, nachdem in der Nähe unseres Hauses eine Rakete explodiert war und packten schnell unsere Sachen. Auf den Autobahnen gab es große Staus. Zuerst lebten wir ein paar Tage in einem Dorf in der Nähe von Kiew, aber als das Dröhnen des Artilleriefeuers schon ziemlich nah zu hören war und die Brücke über den Fluss in der Nähe unseres Dorfes gesprengt wurde, um den russischen Eindringlingen den Vorstoß zu verwehren, fuhren wir weiter nach Westen.
Es war sehr beängstigend. Uns wurde gesagt, dass russische Panzer jederzeit auf der Autobahn auftauchen könnten. Aber wir hatten Glück - die Panzer erschienen dort erst Stunden, nachdem wir durchgefahren waren. Später erfuhren wir, dass viele Autos, die ebenfalls auf dieser Straße unterwegs waren, beschossen wurden.
Wir kamen an der ukrainisch-polnischen Grenze an und verabschiedeten uns von meinem Vater, da er das Land nicht verlassen durfte. Es war sehr schmerzhaft, Mama und meine Schwester weinten. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch auch meine Augen waren voller Tränen. Mein Vater hatte feuchte Augen, als er zu mir sagte: "Anton, du bist schon erwachsen und der einzige Mann, dem ich Mama und deine Schwester anvertrauen kann.“ Ich war damals 13.
Flucht nach Deutschland und Rückkehr nach Kiew
Über Polen flohen wir im März 2022 nach Deutschland. Zunächst lebte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester ein Jahr lang in Nordrhein-Westfalen. Dieses erste Schuljahr in Deutschland war sehr schwer für mich. Ich stand um fünf Uhr auf und fuhr zur Schule, und nach Unterrichtsende nahm ich Online-Unterricht an meiner ukrainischen Schule. In der verbleibenden freien Zeit lernte ich Deutsch.
Als wir erfuhren, dass alle Angriffe auf Kiew abgewehrt worden waren, beschlossen wir im Frühjahr 2023, in die Heimat zurückzukehren. Auf der Autobahn nach Kiew erkannten wir die Straße kaum wieder. Überall waren Militärkontrollpunkte, viele Gebäude waren zerstört und die Straße von den Ketten der Panzer zerschlagen. Viele Panzer lagen ausgebrannt entlang der Strecke.
In dem Dorf Buzova, wo wir in den ersten Kriegstagen lebten, waren etwa ein Drittel der Häuser zerstört, darunter die Schule, der Kindergarten und das Krankenhaus. Im Dorf selbst starben viele unschuldige Menschen. Als ich all das sah, erschien es mir, als ob ich einen Kriegsfilm anschaute, und ich konnte nicht glauben, dass dieser Krieg in meinem Land stattfand. Es war sehr beängstigend, das alles anzusehen. Aber noch schmerzhafter war es, als ich die zerstörten Häuser meiner Freunde sah und erfuhr, dass sie getötet worden waren.
Auch Kiew war ein trauriger Ort. Graue Gebäude, manche von Raketenangriffen beschädigt, leere Straßen und kaum Kinder zu sehen. All das rief Sehnsucht nach dem verlorenen glücklichen Leben hervor, wie ich es noch vor kurzem geführt hatte. Es war zwar schön, nach Hause zurückzukehren, aber es gab keine Freude. Ich verstand, dass sich alles verändert hatte: die Stadt, unser Leben. Es würde nie wieder so sein wie früher.
Die Schüler meiner alten Klasse und meine Freunde lebten jetzt verstreut in verschiedenen Städten der Ukraine und Europas. Das Gebäude neben unserem Haus war durch eine russische Rakete vollständig zerstört worden, andere Gebäude daneben waren ebenfalls teilweise beschädigt. Die Sirenen heulten oft, um vor dem nächsten Angriff russischer Raketen und Drohnen auf Kiew zu warnen, und alle mussten sich in Luftschutzbunker verstecken.
Jeden Tag legte ich mich schlafen und wusste nicht, was die Nacht bringen würde - Ruhe oder wieder Raketenangriffe. Wenn die Sirene heulte, wurden wir nervös, die Müdigkeit verschwand und die Angst kam. Es war nicht die Angst davor, von großer Höhe ins Wasser zu springen, es war die Unsicherheit vor der der nächsten Minute und die Sorge, dass niemand aus der Familie oder von den Freunden sterben und das Haus intakt bleiben würde.
Krieg ist eine große Tragödie. Er raubt den Menschen ihr Zuhause und ihr Leben. Er macht Kinder zu Waisen. In Kiew hörten sogar die Kinder auf zu lachen, sogar auf den Spielplätzen spielten sie still. Gespräche über Bekannte, bei denen ein Verwandter gestorben oder verschwunden war, wurden zur Normalität. Man begann zu verstehen, dass das Leben der Menschen, die einem nahe stehen, das Wertvollste ist.
Nach all dem Grauen überzeugten mich meine Eltern, mich an einem Internat in Deutschland anzumelden, weil sie wollten, dass ich in Sicherheit bin. Obwohl es in Kiew unsicher war, war es schwer für mich wegzugehen. Meine Familie blieb in einem Land, in dem Krieg herrschte, und niemand wusste, was morgen sein würde. Ich würde in Deutschland sein und sie brauchen sich keine Sorgen um mich machen, aber ich mache mir große Sorgen um sie.
Schüler am Gymnasium LSH Marquartstein
Vor dem Krieg besuchte ich eines der besten Gymnasien in Kiew und ich war ein ausgezeichneter Schüler. Mein Hobby war Tanz. Meine Partnerin und ich trainierten fast täglich und nahmen sogar an internationalen Wettkämpfen teil. Der starke Wunsch, zu tanzen ist immer noch in mir, aber ich verstehe, dass jetzt nicht die Zeit dafür ist. Der Krieg hat all das mit einem Schlag beendet.
Seit September 2023 besuche ich das Gymnasium in Marquartstein und lebe dort im Internat. Hier fühle ich mich wohl und gut aufgehoben. Der Internatsleiter und das Team der Erzieher unterstützen mich moralisch und helfen mir im Alltag und beim Lernen. Ich bin ihnen sehr dankbar, denn mit ihrer Hilfe und Fürsorge konnte ich mich schnell in der neuen Umgebung zurechtfinden.
Das Internat ist jetzt mein zweites Zuhause, auch wenn ich bisher noch keine Freunde unter den Mitschülern gefunden habe. Ich wünsche mir, dass sich das bald ändern wird. Nach der Schule und der Studierzeit am Nachmittag erhalte ich abends Online-Unterricht, um mich auf meine Abschlussprüfungen meiner ukrainischen Schule vorzubereiten. Am Freitagabend bekomme ich online Deutsch-Nachhilfe von meiner Großtante.
Besonders wenn am Wochenende alle Internatsschüler nach Hause fahren, fühle ich mich sehr traurig, dass meine Familie nicht in der Nähe ist. Aber dank der Erzieher, die interessante Aktivitäten am Wochenende organisieren, fällt es mir leichter, mich abzulenken und nicht ständig daran zu denken.
Die erste Zeit am Gymnasium war nicht einfach und ich war sehr unsicher aufgrund meiner fehlenden Deutschkenntnisse, denn in zwei Jahren ist es schwer, Deutsch perfekt zu lernen. Aber ich gebe mein Bestes. Für die Zukunft wünsche ich mir, hier das Abitur zu machen. Mein Vater und meine Mutter sind beruhigt und zufrieden, dass ich unter der Aufsicht solcher Profis und einfach guter Menschen im Internat bin.
Anton steht beispielhaft für viele ukrainische Kinder, deren Leben durch den Krieg erschüttert wurde. Um die in Not geratenen Kinder in der Ukraine zu unterstützen, organisieren die Internatsschüler des Gymnasiums LSH Marquartstein in der Woche vor den Pfingstferien einen Kuchenverkauf zugunsten der UNICEF-Kindernothilfe.
Helfen auch Sie mit einer Spende für die UNICEF-Nothilfe:
Spendenzweck: Ukraine
Bank: Bank für Sozialwirtschaft Köln
IBAN: DE57 3702 0500 0000 3000 00
Weitere Informationen finden Sie auf www.unicef.de!
Foto:
Raketeneinschlag in einem Nachbarhaus, fotografiert aus Antons Wohnzimmer